Höxter / 23.10.2017 (TKu). Genau 50 Jahre ist es am 23. Oktober 2017 her, als eine furchtbare Gasexplosion mit einer Toten und vielen Verletzten die Höxteraner Innenstadt erschüttert. Es ist kurz nach 16 Uhr: In der Fleischerei Freise und dem daneben befindlichen Schmuckgeschäft Lillmeyer, die beide damals im Fachwerk-Eckhaus in der Westerbachstraße Ecke Marktstraße untergebracht sind, befinden sich Kunden in den Geschäften. Schon einige Zeit riecht es im ganzen Haus komisch nach Gas. Der verständigte Fachmann von den städtischen Gaswerken ist vor Ort, muss aber noch sein Gasmessgerät von seiner Dienststelle holen zur genaueren Messung. Um 16:08 Uhr Ortszeit passiert dann das Unglück: Zwei im gesamten Stadtgebiet nicht zu überhörende Explosionen erschüttern das alte Fachwerkgebäude. Die Menschen in den Geschäften werden schwer verletzt und zum Teil auf die Straße geschleudert. Schmuck und Uhren des Juweliers Lillmeyer werden durch die Wucht der Explosion aus den Auslagen auf die Straße geschleudert.

Sofort bricht in dem Eckhaus aus dem 16. Jahrhundert ein Feuer aus, das sich rasch vom Erdgeschoss bis zum Dachstuhl ausdehnt. Der 8-jährige Udo Freise spielt zu dem Zeitpunkt gerade mit seinem Ball in „Freises Hinterhof“ bei Textil-Freise auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Nach dem Knall läuft er auf die Stummrige Straße, um zu sehen, was geschehen ist. Der damals 8-Jährige muss mitansehen, wie das Eckhaus brennt und seine Großtante Elise Freise im Obergeschoss am Fenster steht. Ein Feuerwehrmann hat die Inhaberin der Metzgerei Freise ebenfalls noch am brennenden Fensterkreuz im oberen Stockwerk gesehen. Er berichtet damals in einem Zeitungsartikel: „Die Frau hob beschwörend die Hände, als suche sie nach Halt. Ihre Kleider hatten schon Feuer gefangen. Plötzlich war sie verschwunden.“ Zwar wird eilends noch eine Leiter an das brennende Haus heran getragen, aber die beiden Männer, die unter Lebensgefahr helfen wollen, müssen wegen der starken Hitze, die aus den Fenstern ausströmte, wieder umkehren.

Elise Freise verstirbt bei dem Unglück, bei dem noch weitere sechs Personen schwer und acht leicht verletzt werden. Udo Freise (heute 58) erinnert sich noch gut an das Unglück vor 50 Jahren: Die Hitzestrahlung war so enorm, dass auf der gegenüberliegenden Straßenseite Schaufenster zu platzen begannen. Gemeinsam mit seiner Mutter befüllte er mehrere 10-Liter-Wassereimer und stellte sie in der Wohnung auf, aus Angst, der Brand könne sich auf die eigene Wohnung ausdehnen. Heute ist Udo Freise selbst aktives Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr Höxter, der er schon seit mehreren Jahrzehnten angehört. Damals als einer der ersten Helfer vor Ort gewesen ist der Höxteraner Krankenpfleger Hans-Otto Sauter. Wenige Wochen vor dem Unglück war Sauter noch auf dem Deutschen Rotkreuzschiff „Helgoland“ im Vietnam-Krieg im Einsatz. Inzwischen arbeitete er wieder in Höxter im St.-Nikolai-Krankenhaus.

Hans-Otto Sauter erinnert sich: „Ich wollte in meinen Pkw steigen, der auf dem Marktplatz abgestellt war, als es zweimal kurz hintereinander donnerte. Zunächst dachte ich an ein Gewitter, aber dann sah ich die Häuser in einem Feuerschein stehen und Menschen, die schreiend auf die Straße liefen.“ Krankenpfleger Sauter leistet sofort Erste Hilfe. Mit Beamten der Höxteraner Polizei sorgt er dafür, dass die Verletzten schnell in die Ambulanzen der Höxteraner Krankenhäuser überführt werden. Im Krankenhaus hat Chefarzt Dr. med. Karl Grau, Facharzt für Chirurgie, alle Vorbereitungen für eine Aufnahme der Verletzten getroffen. Es ist lange her, aber Hans-Otto Sauter erinnert sich noch ganz genau an Emma Dyballa und ihren neun Monate alten Sohn Thomas im Kinderwagen. Während der Explosion befinden sich beide in der Fleischerei. Der heute 50-jährige Höxteraner Fahrlehrer Thomas Dyballa (mit eigener Fahrschule) kennt die Geschichte nur noch von Erzählungen seiner im Jahre 2003 verstorbenen Mutter Emma. Durch die Explosion werden beide vom Feuerball erfasst. Emma Dyballa erleidet einen Schock und schwere Verbrennungen. Ihr neun Monate alter Sohn Thomas wird aus dem Kinderwagen geschleudert und erleidet leichtere Verbrennungen am Kopf und an der Hand.

Feuerwehrleute haben Erzählungen zufolge Mutter und Sohn gerettet. In der Frauenabteilung des katholischen St.-Nikolai-Krankenhauses fragt Emma Dyballa immer wieder nach ihrem Sohn Thomas. Sie konnte sich an nichts mehr erinnern. Im Krankenzimmer werden Mutter und Sohn dann wieder zusammengeführt. Emma Dyballa schließt ihren Thomas laut Zeitzeugen-Berichten überglücklich in die Arme. Mit den Folgen hat sie aber noch lange zu kämpfen. Ein dreiviertel Jahr muss sie wegen der Verbrennungen in der Uniklinik Göttingen verbringen, während Thomas bei seiner Tante und der Cousine untergebracht ist, erinnert sich der heute 50-Jährige. Schlimm trifft es auch den Baggerführer, er wird auf das Pflaster geschleudert und trägt schwere Gesichtsverletzungen davon. Im Zuge der Altstadtsanierung steuerte er den Bagger eines Höxteraner Tiefbauunternehmens. Nach seinen Aussagen zufolge hatte er 30 Minuten vor den zwei Explosionen die Maschine abgestellt. Am Greifer machte sich ein technischer Defekt bemerkbar. Er konnte die Erdmassen nicht mehr fassen, sondern schabte lediglich die Oberfläche ab. Der Bagger hatte die Gasleitung angebaggert. Im Zuge der Ermittlungen hat man im Haus von Johann Lillmeyer festgestellt, dass dadurch ein Bruch in der Zweigleitung vom Straßenhauptrohr zum Haus und ein weiterer im Keller verursacht worden war.

Etwa zwei Stunden lang strömte Gas aus diesen Bruchstellen. Die Nacht von Montag auf Dienstag war für die Feuerwehren aus Höxter, Holzminden, Brakel und Beverungen, die Werkfeuerwehr der Gummifädenfabrik (Optibelt), das Deutsches Rotes Kreuz und Technische Hilfswerk, die Bundeswehrsoldaten, den Zivilschutz und die Polizei ohne Atempause. Erhebliche Schwierigkeiten bereitete die Löschwasserversorgung, die erst von der Weser hergestellt werden musste. Die Hydranten sind wegen der Bauarbeiten abgestellt gewesen. Bis eine Wasserversorgung von der Weser her aufgebaut worden war, mussten die Tankfahrzeuge das Löschwasser liefern. „Da wir die Züge nicht aufhalten konnten, musste ein Loch unter den Schienen gegraben werden, um die Schläuche darunter her zu verlegen. Das dauerte etwa zehn Minuten“, berichtet der 1994 verstorbene und damalige Feuerwehr-Einsatzleiter Martin Sternberg. Ebenfalls Schwierigkeiten bereiteten zahlreiche Schaulustige, die erst zurückgedrängt werden mussten, damit die Feuerwehr tätig werden konnte. Glück im Unglück hatte das Ehepaar Elly und Karl Lessmann, Besitzer des Gasthauses „Zur guten Quelle“. Sie wurden für tot gehalten, waren aber nicht im Haus während der Explosion, der Weg zum Friedhof hatte sie gerettet. Ihr Hab und Gut und das Gasthaus wurde aber innerhalb kürzester Zeit vom Feuer zerstört. Heute, 50 Jahre nach dem Unglück, steht das Fachwerkhaus wieder an gleicher Stelle. Mit Unterstützung des Denkmalschutzamtes ist das historische Gebäude von 1548 komplett abgetragen worden und mit den original verzierten Balken wieder originalgetreu aufgebaut worden.

Fotos/Repros: Thomas Kube

Zeitzeuge Hans-Otto Sauter fast 50 Jahre nach der Katastrophe

Feuerwehrmann Udo Freise war damals 8 Jahre alt und wurde selbst zum Zeitzeugen

Der 50-jährige Thomas Dyballa wurde als Säugling aus seinem Kinderwagen geschleudert

Bisher unveröffentlichte Fotos aus dem Dia-Album von Hans-Otto Sauter